Howard Rheingold in Shinjuku



INTERVIEW MIT HOWARD RHEINGOLD

Die nächste soziale Revolution?


TEXT UND INTERVIEW: BJÖRN BRÜCKERHOFF
BILD: JUSTIN HALL



Als neulich in der Nähe von Grand Central Station, dem Hauptbahnhof von New York, ein plötzlicher Applaus die Reisenden erschreckte, ist Howard Rheingold das erste Mal öffentlich bestätigt worden.

Die wilde Menge, einige hundert Menschen, einander völlig unbekannt, löste sich nach fünfzehn Sekunden tosender Beifallbekundung ebenso plötzlich wieder auf, wie sie sich gebildet hatte. New York war Zeuge eines Flash Mobs geworden.

Der Grund des Klatschens: unbekannt. Viele vermuteten einen Werbegag, eine
anarchistische Revolte, einen Filmstar inkognito, einen Aktionskünstler. Die Realität war weit profaner, wenngleich noch merkwürdiger: es gab keinen Grund für den Applaus.

Die Ereignisse häuften sich. Letzte Woche gaben zum Beispiel 200 Menschen im Central Park ein imitiertes Vogelstimmenkonzert und im Kaufhaus Macy's fragten gleichzeitig 200 vorgebliche Teilnehmer einer Reisegruppe aus Maryland nach einem persischen "Liebes-Teppich". Ein paar Sekunden später war niemand mehr am Ort des Geschehens.

In der Zwischenzeit hat der Blitz auch in Deutschland eingeschlagen. So wurde in Diskussionsforen dazu aufgerufen, sich vor dem Kölner Dom zu versammeln, bekleidet mit einem roten T-Shirt. Dort sollte gemeinsam die Internationale intoniert werden, um danach die Open Air Performance abrupt aufzulösen. Auch in einem Kaufhaus wurde das Gesellschaftsspiel praktiziert: vor einem Sofa versammelte sich eine Menschentraube und sagte lautstark: "Das ist aber ein schönes Sofa."

Die unvermutet große Idee hinter diesen und unzähligen anderen dadaistischen Darbietungen hatte Howard Rheingold 1999 in Tokio. Dort beobachtete er, wie immer mehr Menschen statt über ihre Handys zu telefonieren, Texte tippten. Der 55jährige Sozialwissenschaftler und Internet-Pionier aus Kalifornien, der Anfang der 90er Jahre die virtuelle Community vorausgesagt hatte, dachte an eine neue Form der gesellschaftlichen Wirkung mobiler Kommunikation. Die Übertragung der Idee der virtuellen Gemeinschaft auf das reale Leben. Das Phänomen, in seinem neuen Buch "Smart Mobs" genannt, beschreibt einen prinzipiell simplen Vorgang. Menschen, die sich persönlich nie getroffen haben, lernen sich über das Internet kennen und bilden dort Gemeinschaften. Durch mobile Kommunikationsgeräte ist es schon länger möglich, diese Gemeinschaften auch im alltäglichen Leben, also nicht zwangsläufig vor einem Computer sitzend, überall hin mitzunehmen. Genau genommen ist also nicht die Masse clever, sondern die Geräte sind es, die sie zusammenbringt.

Neu ist jedoch die Schlussfolgerung, die sich ergibt: wenn die mobile Kommunikation portabel wird, kann sie über die Grenzen der Virtualität hinaus wachsen. Sie kann direkten Einfluss nehmen auf das alltägliche Geschehen in der realen Welt.

Die Gegenwart sprach mit Howard Rheingold darüber, wie sich virtuelle Gemeinschaften heute in reales Leben fortsetzen, wo Chancen liegen und Risiken zu befürchten sind.

Björn Brückerhoff: Herr Rheingold, können Sie einige aktuelle Beispiele von Smart Mobs nennen?

Howard Rheingold: Auf den Philippinen haben Tausende von Einwohnern über SMS-Versand Demonstrationen organisiert und so dazu beigetragen, dass das Regime von Joseph Estrada gestürzt wurde. Als in Korea klar wurde, dass der von einer bestimmten Gruppe bevorzugte Kandidat die Wahl verlieren würde, haben sich seine Anhänger über Websites, E-Mail und Textnachrichten gegenseitig aufgefordert, wählen zu gehen und damit dafür gesorgt, dass der heutige Präsident Roh
Moo-hyun in den letzten Stunden der Wahl doch noch gewählt worden ist. In den USA demonstrierte die Kampagne des Präsidentschaftskandidaten Howard Dean, wie eine selbstorganisierte Initiative mit der Hilfe des Online-Portals Meetup.com, Weblogs und Online-Spenden großen Erfolg haben kann. Zum Beispiel ist die Website moveon.org spezialisiert darauf, selbstorganisierte Lobbying-Kampagnen technisch zu unterstützen. In der realen Welt gibt es schon heute "Flash Mobs", das sind spontane Treffen von Menschen, die sich persönlich nicht kennen und eine bestimmte Aktion durchführen. Flash Mobs finden immer mehr Zulauf. Zwar sind die bisherigen Flash Mobs eher öffentliche Streiche oder Witzaktionen, doch zugleich Vorboten einer ganz neuen Form von öffentlicher Organisation.

Björn Brückerhoff: Könnten über die mobile Kommunikationstechnologie, die für die Bildung von Smart Mobs notwendig ist, nicht noch mehr Daten an öffentliche Stellen, Organisationen oder Unternehmen fließen?

Howard Rheingold: Natürlich. Die Koordination von Smart Mobs erfordert ein hohe Bereitschaft, persönliche Informationen zu veröffentlichen, zum Beispiel persönliche Vorlieben, beliebte Treffpunkte. Das kann missbraucht werden. Wie bei jeder neuen Entwicklung gibt es Vor- und Nachteile. Wenn Kommunikationsmedien den Menschen ermöglichen, gemeinsame Aktionen in einer ganz neuen Größenordnung zu organisieren, verändert sich zwangsläufig unsere Gesellschaft. Der Buchdruck hat zu einer Demokratisierung der Literatur geführt. Ausgehend von einer kleinen Elite konnten nunmehr ganze Gesellschaften lesen und Wissen konservieren. Der Kapitalismus ist eine Form gemeinsamen Handels auf ökonomischer Ebene, der auf dem Medium Geld basiert. Wissenschaft, Demokratie, Kapitalismus: von ihnen gehen riesige gesellschaftliche Veränderungen aus. Allerdings: nicht jede Gruppe, die sich gemeinschaftlich organisiert, hat zwangsläufig Ziele im Sinn, die gut für eine Gesellschaft sind. Organisierte Kriminalität, Terrorismus oder Unruhen sind ebenfalls Formen gesellschaftlichen Handelns.

Björn Brückerhoff: Wie kommunizieren die Mitglieder der Gruppen untereinander?

Howard Rheingold: Zunächst über das Internet, über Websites und Weblogs. Natürlich über das Mobiltelefon und über SMS. Das Telefon, der Computer und das Internet verbinden sich zu einem einzigen Medium, mit spezialisierten Aufgaben. Hauptsächlich wird dieses neue Medium dazu dienen, soziale und virtuelle Netzwerke zu mobilisieren. Auch, um Informationen an jedem Ort und zu jeder Zeit einsehen und  veröffentlichen zu können. Wie auch in virtuellen Communities im Internet, lernen sich die Leute aufgrund ihrer Gemeinsamkeiten kennen, aufgrund ihres gemeinsamen Interesses. Smart Mobs bringen diese Interessengruppen in die reale Welt. Das heißt, übertragen auf die Dinge des Alltags: Menschen, die sich über virtuelle Gemeinschaften kennen gelernt haben, könnten in der realen Welt zum Beispiel Rabatte nutzen, weil sie gemeinsam Produkte kaufen - obwohl sie sich niemals vorher gesehen haben, nur koordiniert über eine vormals virtuelle Community.

Björn Brückerhoff: Und was kommt nach Smart Mobs?

Howard Rheingold: Die Ära der "empfindenden" Dinge. Die Verbreitung von kleinen, intelligenten Geräten die über Computer, Sensoren und Sende-Empfänger verfügen und ad hoc Netzwerke bilden können. Dinge des Alltags, die wir nicht mehr als Computer wahrnehmen werden.

 


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